Tagungsbericht BuKo12 Part05
Posted: 09.12.2011 | Tags: außerschulisch, dokumentation, Fachtagung, Ganztag, Kunstpädagogik, Part05, Sozialraumorientierung, Tagungsbericht | No Comments »„Wir brauchen eine riesige Vision, mit methodischen Mätzchen kommen wir nicht weiter!“
Bundeskongress der Kunstpädagogik 2010-12, Part05 – Kunstpädagogik im Kontext von Ganztagsbildung und Sozialraumorientierung
Die räumliche Dimension von Bildungsprozessen und die darin liegenden Potenziale der Kunstpädagogik innerhalb der Ganztagsbildung waren Mittelpunkt des fünften Teils des BuKo12, der am 11. und 12. November 2011 an der Universität in Erfurt stattfand. Als eine von insgesamt acht dezentralen Plattformen im Vorfeld der Abschlussveranstaltung im Oktober 2012 war auch Part05 als eigenständige Fachtagung konzipiert und wurde von Prof. Dr. Ulrike Stutz (TU Erfurt) in Kooperation mit der Fachstelle „Kultur macht Schule“ der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ e.V.) im Rahmen der MIXED UP Akademie und mit Unterstützung der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) im Rahmen des Programms „Ganztägig Lernen“ organisiert.
Mit einem Verweis auf das historische, nur alle 100 Jahre vorkommende Datum (11.11.11) überbrachte Wolfgang Zacharias (BJK) sein Grußwort an die rund achtzig Tagungsteilnehmer/innen. Die Elf als kleinste Schnapszahl, unheilig und entgrenzend, da sie um 1 die Zahl der Zehn Gebote übertritt, sei daher mehr als passend für die Kunstpädagogik, die sich – wie der Karneval – Überschreitung, Transformation und Irritation zu Eigen mache. Und so durchblätterte er die historischen Wurzeln und Entwicklungslinien der Kunstpädagogik seit den 1970er-Jahren in einem beeindruckenden Kaleidoskop aus biografischem Hintergrund, reflektierter Praxis und aktuellen Diskursen. Er zeigte, wie Geist und Dynamik der 1968er-Jahre auch die Kunstpädagogik mobilisierte und Gruppen wie KEKS u.a. mit künstlerischen und pädagogischen Verfahren Möglichkeitsräume schufen, die bereits damals die heute so vielfach geforderten Schlüsselkompetenzen Kreativität, Innovation und Flexibilität beförderten. Mit spielerischen Strategien der Raumbesetzung und des symbolischen Protestes wurde vielfältig experimentiert, worauf später fundierte pädagogische Programme folgten, die auf lokaler Ebene in tragfähige kommunale Strukturen überführt werden konnten. International abgesichert wurde dieses lokal erkämpfte Recht auf kulturelle Bildung im Verlauf der letzten 30 Jahre etwa durch die UN-Kinderrechtskonventionen, die Empfehlungen der Enquete-Kommission oder auch der Seoul Agenda.
In den vielen Beispielen und Aktionen von Zacharias wurde deutlich, wie Stadt als symbolisches Trainingsgelände zur aktiven gesellschaftlichen Beteiligung genutzt werden kann. Und auch das Resümee des Roundtable unterstrich, dass das Potenzial in der Konfrontation von Kunst in ihrer Ereignishaftigkeit liege, als einmaliges ästhetisches Erlebnis sowie emotionale und soziale Erfahrung, wenn sie das eigene Selbst einbeziehe. Daher: Schulhöfe öffnen, raus aus der Schule, rein in die Lebenswelten! (Zacharias)
Das Schulgebäude für einen bestimmten Zeitraum zu Gunsten anderer Orte zu verlassen, die aus dem Schulalltag herausgelöst neue Lehr- und Lernmöglichkeiten bereitstellen, war auch Schlussfolgerung von Kirsten Winderlichs Beitrag. Die Kontextverschiebung ermögliche es, dass die urbane Umgebung Lehr- und Lernprozesse steuere und so interdisziplinäres Forschen und Erkunden durch sinnliche, ästhetische und künstlerische Gestaltung im Vordergrund stehen kann. Beispielhaft sei dies an der Montessori-Oberschule in Potsdam gelungen, die ein wildes Gelände im nördlichen Umland gepachtet hat. Schüler der 7. und 8. Klasse rekultivieren das Gelände in Kooperation mit Lehrern, Bootsbauern, Landwirten und Designern. Die Landwirtschaft spiele dabei eine genauso große Rolle wie die Renovierung von Häusern.
Generell plädierte sie für einen performativen Raumbegriff und dafür, „Unfertiges“ zu bauen. Dies ermögliche einerseits, Schüler an Raumgestaltungsprozessen zu beteiligen und sie mit ihren Perspektiven, Wünschen und Träumen einzubinden. Andererseits erlaube eine räumliche Performativität Spiel- und Gestaltungsmöglichkeiten sowie ein breites Spektrum für Interpretationen und individuellen Bedeutungsebenen. Schulraum biete durch seine ihn konstituierenden Elemente ganz konkrete Bildungsmöglichkeiten: Wand, Boden, Decke, Mobiliar, Oberflächen, aber auch Lichtführung, Temperatur, Gerüche und Geräusche schaffen ästhetische Erfahrungen und haben Auswirkungen auf Lernatmosphären. Eine flexible Nutzung, und sich daraus ableitende vielfältige Bildungsgelegenheiten schaffen eigene Orte für individuelle Themen und Fragestellungen. Hier könne sich Kunstpädagogik noch viel gezielter in die Zwischenzeiten und Zwischenräume von Unterricht trauen. Damit sei den Schülern die Chance gegeben, Schulraum als Ort der individuellen Äußerung für eigene kulturelle und ästhetische Praktiken und Anregung, sich alleine oder gemeinsam mit anderen der Welt zu nähern und sich mit dieser auseinanderzusetzen.
Plastisch im doppelten Wortsinn führte die Künstlerin Susanne Bosch den Anwesenden vor Augen, dass das Handeln jedes Einzelnen gesellschaftlich gestaltend ist, indem sie Knete durch die Hörsaalreihen gab und zum Mitformen aufforderte. Wer nicht formen will, darf die Knete auch einfach nur weitergeben. Deutlich wird dennoch: Jede Bewegung hinterlässt ihre Spuren im Material. Mit der Äußerung: „Mal gucken, ob am Ende ein Kunstwerk entstanden ist“, spielt Bosch auf den erweiterten Kunstbegriff von Joseph Beuys an. Seine Vorstellung „Jeder Mensch ist ein Künstler“ spricht jedem die Möglichkeit zu, plastisch auf Gesellschaft einzuwirken und zu ihrem Wohle beizutragen. Voraussetzung sei, dass Fantasie und Offenheit gefördert werden: „Jeder ist Künstler, der aktiv und bewusst am Leben teilnimmt. […] Demokratie ist eine Idee im Werden.“ (Bosch)
Die Prinzipien aktiver Bürgerschaft und partizipatorischer Demokratie liegen allen künstlerischen Projekten – darunter auch ihre eigene Praxis – zugrunde, die Bosch in ihrem Vortrag präsentierte, um daran die soziale Wirksamkeit von Kunst zu diskutieren. Im sozialräumlichen Kontext sei es vor allem „Kunst im öffentlichen Interesse“, die die Zusammenarbeit mit sozialen Gruppen herstelle, die Kreativität des Einzelnen anspreche und einen Dialog in Gang setze. Anders als Kunst im öffentlichen Raum befasse diese sich stärker mit sozialen Themen als mit der baulichen Umgebung oder ästhetischen Anliegen. Sie zielt auf die Entwicklung eines politischen Bewusstseins, das der Frage „Wie kann man mit dem Gefühl von Machtlosigkeit umgehen?“ mit einer künstlerischen Haltung begegnet, die andere Lösungsmodelle in der Auseinandersetzung des täglichen Lebens sucht sowie Zeit und Raum für die Imagination einer möglichen Zukunft bietet.
Öffnet sich Schule zu ihrem Umfeld und knüpft an sozialräumliche Kontexte an, tritt sie in Kooperation mit verschiedenen Partnern, die ihr eigenes institutionelles Selbstverständnis mitbringen. Bildungsallianzen zu entwickeln, verläuft deshalb nicht immer ohne Befürchtungen, Vorurteile und Hilflosigkeit, da unterschiedliche Systemstrukturen, Formate und Professionalisierungsvorstellungen aufeinander treffen. Wie schafft man hier neue Synergien und Kontexte, um die Beziehung zwischen Schule und Sozialraum zu vergrößern? Kooperation an Ganztagsschulen bedeutet vor allem für die unterschiedlichen Beteiligten aus Bildung und Kultur ein Lernfeld: Was kann der Andere bieten? Wie kann sich bestehendes ergänzen? Wie können Angebote ineinandergreifen?
Einen ganzen Strauß an Empfehlungen präsentierte Gisela Wibbing, damit eine Schule Kultur in ihrem Programm verankern und ein kulturell geprägtes Schulprofil entwickeln kann. Voraussetzung sei der Wunsch, kulturelle Bildung zu verstetigen, ab und zu Kultur anzuregen, genüge nicht. Kulturelle Schulentwicklung umfasse dabei alle Ebenen der Schule: Lehr- und Lernsituationen, den Lehrplan, die Vernetzung im Sozialraum und die Zusammenarbeit mit Bildungspartnern, die organisatorischen und strukturellen Rahmenbedingungen und die Qualitätsentwicklung und Qualifizierung des Personals.
Steht regelmäßig Kunstpädagogik auf dem Lehrplan haben Schüler vielfältige Vorteile. Internationale Untersuchungen, wie die 2004 von der UNESCO in Auftrag gegebene Studie „The Wow Factor“ von Anne Bamford zeigen, dass Schüler insgesamt bessere Leistungen und höhere Abschlüsse erzielen, sich leichter auf Unterrichtsinhalte konzentrieren können, aber auch in Bezug auf Sozialverhalten und Persönlichkeitsentwicklung sehr profitieren, wenn kulturelle Bildung Teil ihres Schulalltags ist. Kunst und Kultur im Unterricht sollte natürlich allen Schülern zuteil werden. Außerdem sollten möglichst viele Sparten der kulturellen Bildung abgedeckt sein, was sich durch das Modell eines aufeinander aufbauenden Karussells umsetzen lasse: Die Sensibilisierungsphase für die Jahrgänge 5/6 (z.B. acht kulturelle Angebote, die jeweils nach einem viertel Jahr wechseln). Anschließend folgt die Professionalisierungsphase für die Jahrgänge 7/8, entdeckte Fähigkeiten werden verfeinert. Schließlich stärkt der Werkstattbereich für die Jahrgänge 9/10 Synergien.
Zehn Jahre, so die Einschätzung von Gisela Wibbing, benötigt eine Schule hin zur Kulturschule. Kein Wunder, wenn sich zwischendurch Gefühle von Machtlosigkeit und Frustration einstellen. Denn Hürden gibt es nicht nur zahlreiche bei der Kooperation mit außerschulischen Partnern, sondern vor allem im streng hierarchischen System Schule selbst: „Betonrealität“, präzisiert eine Teilnehmerin des Roundtable. Ohne dass die Schulleiter eine Vision oder wenigstens die Affinität zu Kultur haben und aus der Lehrerschaft heraus ein Kulturkoordinator ernannt wird, ließe sich der Weg nicht beschreiten. Das bringt ein weiteres Roundtable-Gespräch noch stärker auf den Punkt: Neue Schulen bedürfen neuer Lehrer, und dies müsse schon in der Ausbildung an den Hochschulen ansetzen. Der neue Lehrer solle sich – zwar entspannt und gelassen, aber mit Herz und Leidenschaft – der Verantwortung und Freiheit bewusst sein, dass er Mitgestalter von Schulentwicklung ist.
Wenn Lehrer ihre Rolle als Wissensmonopolisten aufgeben, haben sie die Chance, wieder zur Avantgarde in der Bildungsgesellschaft zu werden. Diesen Gedanken von Norm Green, einem der Verfechter des kooperativen Lernens, legte Arno Lang seinen Ausführungen zugrunde und sagt: „Wir brauchen eine riesige Vision, mit methodischen Mätzchen kommen wir nicht weiter!“ In der Neugestaltung von Unterricht bedürfe es eher eines Quantensprungs und dennoch gehe es nur zu Fuß dorthin, resümiert er den langen Weg zur 2007 realisierten Gründung der freien Ganztagsschule LEONARDO in Jena. Während der erste Unterrichtsbetrieb mit 15 Schülern, zwei Lehrern und zwei Praktikanten begann, ist die Schule inzwischen auf über 80 Schüler angewachsen.
Schule sei der Bereich, in dem man demokratische Gesellschaft lernen könne. „Wir müssen heute vor allem das soziale Miteinander ausbilden, demokratische Strukturen und Vorgänge müssen sich im täglichen Leben der Schüler, in ihren Klassenräumen und an Schulen abbilden“, so Lange. Die Rolle des Lehrers wandle sich dann zu dem eines Coachs, der demokratische Prozesse moderiert. Die Ganztagsschule als Lern- und Lebensraum kann solche Ansätze aufnehmen und den Schülern verschiedene Felder der Partizipation ermöglichen. An der LEONARDO Schule bieten z.B. Klassenrat und Schulkonferenz Beteiligung an grundsätzlichen Entscheidungen, doch auch die verschiedenen Formen des Unterrichts ermöglichen in unterschiedlichen Graden Partizipation, z.B. als Projekt-Lernen, als Lernbüro (Freiarbeit) und als Werkstatt (Arbeitsgemeinschaften). Und selbst der „glorreiche Frontalunterricht“ (Lange) wandle sich, wenn Schüler anstatt Lehrer vorne stehen: „Plötzlich hat man Profis in der Klasse!“. Das individuelle Wissen und die eigenen Ideen werden dabei aktiv in den Lernprozess mit eingebracht, was Lernmotivation und damit den ganzen Lernprozess fördert. Das kann man, nach Lange, „ganz einfach hinkriegen“, wenn man nicht die Hausmeisterfirma engagiert, sondern die Wände selbst anmalt.
Sozialraumorientierung bedarf der Sozialraumanalyse. Welche Orte frequentieren Kinder eigentlich in ihrer Stadt? Wo bewegen sie sich und was bewegt sie dort? Wie kann Schule die persönlichen Territorien ihrer Schüler wahrnehmen und visualisieren? Beispiele dafür wurden in einem der abschließenden Roundtable präsentiert: Die Stadtgebietskarte, inmitten des Schulfoyers aufgehängt, könne die Stadtzugänge und -aneignungen der Schüler sichtbar machen. Im Sinne des cognitive mappings könnten sie ihre individuellen Wege und Orte auf der Karte entsprechend markieren, und bei Stadtspaziergängen vom Perlenladen bis zum Probekeller ihre Wahrnehmung und Nutzungsweisen aufzeigen.
Daraus ließen sich vielfältige Strategien wie Marktplätze, Kooperationen, Austausch und Vernetzung vom Frisör bis zum Stadteilpolitiker initiieren mit dem langfristigen Ziel der Orientierung und Vergewisserung in den Territorien. Und damit schloss sich der Kreis zum Einleitungsvortrag von Wolfgang Zacharias und seiner Referenz an die kunstpädagogische Tradition eines Gunter Otto (1987): „Inhaltsüberlegungen, die die Territorien nur akzeptierten, statt sie zu bearbeiten, geraten in die Gefahr, die Intersubjektivität zu verfehlen. Diese Spannung muss Schule reflektieren und aushalten!“ Die Kunstpädagogik, besser noch die ästhetischen Anteile aller Lernprozesse, hätten also zwei Aufgaben: Territorien erfahren, erleben und erkunden helfen sowie Karten machen zu lehren.
Mag sich die Erfurter Tagung auch etwas mehr Narrenfreiheit in Bezug auf ihr performatives Format erlaubt haben können, so lag ihre Stärke unbestritten in den inhaltlich hochwertigen und facettenreichen Beiträgen sowie in der gelungenen Verzahnung theoretischer Analyse mit einer enormen Fülle an Beispielen für die Anwendung in der Praxis. Und dies trieb bereits kurz vor Kongressende eine erste Blüte: David Scheitz, Studierender an der Universität Erfurt, und Arno Lange gründeten spontan ein Freies Seminar zur demokratischen Schule, das im Sommersemester starten wird. Ein Blog mit der Adresse http://dsds-ss12.blogspot.com wird umgehend eingerichtet. Und so endete in Erfurt BuKo12 Part05 mit einem Aufruf zum Anfang: „Bitte posten, was eine gute Schule ist!“
Autorin: Carina Herring
Carina Herring, freie Kuratorin und Autorin Berlin/Marseille, von 2004 – 2010 Projektleiterin der Arbeitsgemeinschaft deutscher Kunstvereine, Berlin.
Initiatorin folgender Projekte: COLLABORATION.Vermittlung.Kunst.Verein. Ein Modellprojekt zu zeitgemäßen Formen der Kunstvermittlung an Kunstvereinen, 2008-2010. CROSSKICK – Europäische Kunsthochschulen zu Gast in Deutschen Kunstvereinen. Ein internationales Programm zu künstlerischer Lehre und kuratorischer Praxis mit 13 Kunstvereinen und 30 europäischen Kunsthochschulen, 2006-2009.
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