Tagungsbericht BuKo12 Part03
Posted: 17.06.2011 | Tags: Grundschule, Kunst, Kunstpädagogik, Part03, Partizipation | 5 Comments »Partizipatorische Kunstpädagogik in der Grundschule
Auftakt Part 03 in Kassel
Pluralität, Diversität und Heterogenität sind Begriffe, die in der pädagogischen Fachliteratur in den letzten Jahren verstärkt auftreten. Doch inwieweit sind diese neuen Leitbegriffe bereits in der schulischen Praxis angekommen? Große Studien wie die World Vision Kinderstudie zeigen, dass Partizipation im Schulalltag, eine Möglichkeit der unterschiedlichen Schülerleistungen und -interessen gerecht zu werden, nur in wenigen Fällen ermöglicht wird. Deshalb wurde Partizipation in der Grundschule als wesentliches Thema ins Zentrum des dritten Parts des BuKo12 gestellt und aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet.
Partizipation in Inhalt und Struktur
Der seit 2003 im zweijährigen Rhythmus stattfindende bundesweite Kongress der Kunstpädagogik wird aktuell in einer neuen Form durchgeführt. Der BuKo12 zeichnet sich durch das Leitbild der Partizipation aus – in inhaltlicher, struktureller sowie personeller Hinsicht. Ziel der Weiterentwicklung der kunstpädagogischen Tagungskultur ist es, der Pluralität der verschiedenen Positionen und Praktiken gerecht zu werden und produktive Kontaktflächen zwischen kunstpädagogisch handelnden Personen, Institutionen und kunstpädagogischer Theorie und Praxis herzustellen.
Die geplante zweijährige Diskursphase (2010-2012) ist insgesamt in neun Parts mit verschiedenen thematischen Schwerpunkten aufgeteilt, die an verschiedenen Orten in der Bundesrepublik ausgerichtet werden, jedoch inhaltlich stark vernetzt sind. Den Auftakt des BuKo12 bildete im November 2010 der Part01 im Frankfurter Kunstverein, bei dem namhafte Gäste sich in einer Podiumsdiskussion zum Thema „Wie viel Kunst braucht die Kunstpädagogik?“ äußerten. An dieser konnte sich das Auditorium innerhalb sowie außerhalb des Raumes per Livestream interaktiv via Twitter beteiligen. Der derzeit stattfindende Part02 – „Expeditionen ästhetische Bildung“ ist in fünf einzelne Bildungsexpeditionen aufgeteilt, die zum Ziel haben, eine professionelle Kommunikation und Reflexion von kunstpädagogischer Praxis vor dem Hintergrund der unterschiedlichen institutionellen Kontexte und Perspektiven zu ermöglichen.
PARTizipation 03
Part03 ist als dreiteilige Arbeitstagung konzipiert und wird als Kooperationsprojekt von der Universität Kassel und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg realisiert. Den ersten Teil bildete die Auftaktveranstaltung, die am 20. Mai 2011 im Konzertsaal des Instituts für Musik an der Universität Kassel stattfand. Der Veranstaltungsort weist durch die im fünfjährigen Turnus stattfindende documenta eine besondere Affinität zur zeitgenössischen Kunst und die Auseinandersetzung mit dieser auf. Ziel dieser Tagung war es, in den Workshops Projektideen für einen partizipatorischen Kunstunterricht in der Grundschule zu sammeln. Diese sollen im darauffolgenden zweiten Teil, der als Praxisphase in den Monaten Mai bis Dezember geplant ist, dezentral von den teilnehmenden GrundschullehrerInnen weiterentwickelt und realisiert werden. Dabei soll die Möglichkeit bestehen, die Entwicklung der Projekte auf einer internen Plattform zu dokumentieren, verfolgen und kommentieren zu können. Die Ergebnisse dieser Projekte sollen folglich im dritten Teil, der Präsentationstagung an der pädagogischen Hochschule Heidelberg im Januar 2012, präsentiert und im großen Plenum diskutiert werden.
Im Part03 soll der Zusammenhang von Kunstpädagogik und mittlerer Kindheit im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Dazu nahmen – wie bereits bei den vorausgegangenen Parts – Hochschullehrende, Studienseminarleiter, Referendare, Lehrer sowie Studierende und Interessierte an der Tagung teil, um in diesem Zusammengang kunstpädagogische Themenfelder zu bearbeiten.
Dabei ist Partizipation im dritten Part nicht nur in struktureller und personeller Hinsicht realisiert, sondern war inhaltlicher Schwerpunkt der Tagung. Es stellt sich zunächst einmal die Frage: Was ist Partizipation? Stephan Us, bildender Künstler aus Münster und Gastredner im Part03, fasst zusammen: „Partizipation – Beteiligung, Mitwirkung, Mitbestimmung, Inklusion, Einbeziehung, Teilnahme, Teilhabe… Begriffe, die in der gesellschaftlichen Kommunikation in fast allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ständig fallen. Partizipation ist gerade ziemlich ‚in‘“. Als Beispiele nannte er die Online-Befragungen seiner Tageszeitung zu kommunalen Problematiken oder die Möglichkeit auf Facebook über diverse Themen abstimmen zu können. „Alle können und wollen mitbestimmen, haben die Möglichkeit sich zu beteiligen – auch in der Kunst“, so Stephan Us.
Umdenken: Partizipation ermöglichen
Diese Möglichkeit fehlt leider häufig in den (Grund-)Schulen – auch im Kunstunterricht. Andreas Brenne von der Universität Kassel, Mitglied der Initiativgruppe des BuKo12 und neben Christina Griebel und Mario Urlaß von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg Veranstalter des Part03, erläuterte in seiner Einführung dieses Problemfeld. Die fast in jeder Grundschule vorzufindenden schablonenartigen und feinsäuberlich ausgeschnittenen Fensterbilder bezeichnete Brenne als „Exponate einer lebendigen feinmotorischen Übung“ und stellte anschließend die kritische Frage, ob im Kunstunterricht nicht ein bisschen mehr Individualität und persönlicher Kommentar zugelassen und gefördert werden könne. Gerade in einem Unterricht im Kontext einer Disziplin, die par excellence für Offenheit, Freiheit und Kreativität stehe, sei es verwunderlich, dass in dieser Hinsicht so wenig transportiert werde. Wenn man Kinder in ihren Bedürfnissen und Vorstellungen ernstnehmen und Offenheit, Freiheit und Kreativität ermöglichen möchte, müssen Partizipationsmöglichkeiten geschaffen werden.
Brenne betonte darüber hinaus, dass wenn eine partizipatorisch ausgerichtete Kunstpädagogik entwickelt werden soll, die Interessen der Kinder einbezieht, mehrere Ebenen in den Blick genommen werden müssen. Zum einen müsse Unterricht auf eine andere Weise geplant werden. Partizipatorischer Unterricht sei ein offenes System, in dem differente Zugänge ermöglicht werden, woraus wiederum heterogene Produkte entstehen können. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen Kinder an der Unterrichtsplanung beteiligt werden. Zum anderen beziehe sich die Offenheit des partizipatorischen Unterrichts auch auf eine Hinwendung zu anderen Themenfeldern im Kunstunterricht, sodass die Grundidee, mithilfe künstlerischer Auseinandersetzung gesellschaftlich relevante Handlungsweisen in eine auch für Kinder greifbare Form überführen zu können, realisiert werden kann. Um jedoch eine derartige Didaktik entwickeln zu können, müsse eine Vernetzung aller an der Grundschullehrerausbildung beteiligten Institutionen stattfinden, wobei das derzeitige Konzept des BuKo12 bereits als ein erster Schritt in diese Richtung gesehen werden kann.
Drei Seiten der Partizipation
Um einen tieferen Einblick in das Thema Partizipation über den Kunstunterricht hinaus zu ermöglichen, trugen am Vormittag der Tagung drei Gäste wissenschaftliche Erkenntnisse und ihre Erfahrungen zu diesem Thema vor.
Dazu gehörte Anne Sliwka (Pädagogische Hochschule Heidelberg), Erziehungswissenschaftlerin mit dem Forschungsschwerpunkt Schulentwicklung, die das Thema Partizipation aus der erziehungswissenschaftlichen Perspektive beleuchtete. Durch ihren langjährigen Auslandsaufenthalt in Kanada konnte sie zahlreiche Erfahrungen in einem Schulsystem sammeln, das sich in vielerlei Hinsicht vom deutschen unterscheidet. Sliwka legte in ihrem Vortrag dar, inwieweit das deutsche Schulsystem seine Paradigmen ändern muss, um eine neue Lernkultur hin zur Partizipation zu ermöglichen.
Das deutsche Schulsystem war lange Zeit durch das Paradigma der Homogenität der Lerngruppe geprägt – und sei es in den meisten Fällen immer noch. Das von vor zweihundert Jahren von dem ersten Pädagogikprofessor Ernst Trapp aufgestellte Leitbild, der Unterricht müsse sich an den Mittelköpfen ausrichten, verfolge uns bis heute. Lernende werden als vergleichbar betrachtet und es erfolge nur selten eine explizite Anerkennung von Leistungen. Seit den letzten fünf Jahren sei jedoch in der Fachliteratur ein Paradigmenwechsel hin zum Paradigma der Heterogenität zu erkennen. Lerner werden in ihrer Unterschiedlichkeit wahrgenommen und es werden dementsprechende Modifikationen vorgenommen, um den unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht werden zu können. Die Unterschiedlichkeit werde dabei als Herausforderung, teilweise sogar als Problem gesehen, wohinter das Bild der Integration stecke. Ihrer Ansicht nach ist das kanadische Schulsystem dem deutschen einen Schritt voraus: Sie agieren nach dem Leitbild der Diversität. Schüler werden ebenfalls als unterschiedlich wahrgenommen, jedoch werde dort die Unterschiedlichkeit als Bereicherung und als Ressource für individuelle Entwicklung gesehen.
Zudem dominiere im deutschen Schulsystem bei der Leistungsbewertung immer noch die soziale Bezugsnorm (Vergleich der Leistungen des Schülers mit der Leistung der anderen Schüler) gegenüber der kriterialen (Vergleich der Leistung mit Lernziel/Kompetenzstandards) und der individuellen Bezugsnorm (Vergleich der Leistung mit früherer Leistung des Schülers). International habe ein Paradigmenwechsel vom Assessment OF Learning, also einer Bewertung des Lernergebnis als Selbstzweck der Schule vor dem Hintergrund ihrer vielfältigen Funktionen, hin zu einem Assessment FOR Learning, in dem die Rückmeldung als Zweck des Lernens gesehen wird, stattgefunden. Auch wenn die internationalen Erfahrungen zeigten, dass im Assessment For Learning wesentlich bessere Leistungen erzielt werden, sei dieses Paradigma in der deutschen Lehr-Lern-Forschung nur partiell angekommen.
Darüber hinaus müsse sich das deutsche Schulsystem aus der Tradition des hierarchischen Leistungsverständnisses lösen und einem pluralistischen zuwenden, wenn es dem Trend zur Inklusion folgen möchte. „Jedes Kind, jeder Jugendliche kann Leistung erbringen, auch wenn diese Leistung für jeden Menschen anders aussieht“, so Sliwka, und sieht darin besonders positive Folgen für die Gesellschaft: „Die Gesellschaft floriert durch die Unterschiedlichkeit der Leistungen, nicht durch die Gleichheit.“ Sliwka plädiert zudem aufgrund ihrer Erfahrungen in Kanada zu einem kooperativen Lehrerhandeln. Schulen sollten zu sogenannten ‚Professional Learning Communities‘ werden, in denen der Lehrer ebenfalls als Lerner gesehen wird und das Prinzip des gemeinsamen Lernens gilt.
Welche unerwartet hohen Leistungen die Partizipation der Schüler an Unterrichtsinhalten und Unterrichtsmethoden auslösen können, erfuhr sie in einem Projekt, in dem Schüler Bücher schreiben durften. Dabei waren die Schüler thematisch sowie illustrativ freigestellt und konnten so viel schreiben, wie sie wollten. Diese Offenheit löste bei fast allen Schülern eine starke intrinsische Motivation aus, die dazu führte, dass vielfältige und der Schulstufe übersteigende Ergebnisse entstanden. Diese kleinen positiven Erfahrungen sollten uns dazu hinbewegen, Veränderung zuzulassen und Risiken einzugehen, um Neues erreichen zu können.
Einen weiteren Blickwinkel auf das Thema ‚pARTizipation‘ lieferte der bereits genannte bildende Künstler Stephan Us, dessen umfangreichstes Werk das Archiv des Nichts ist. „Eigentlich rede ich nicht, wenn ich Vorträge über das Nichts halte…“ Das Archiv des Nichts enthält mittlerweile rund zweitausend gesammelte Beiträge über das Nichts – Fragen, Ideen, (innere) Bilder seiner Betrachter, die an diesem Projekt teilnehmen möchten. „Kann man nichts denken? Was ist eine Pause?“ sind alles Fragen, die das Motiv des Archiv des Nichts verdeutlichen. An dem weltweit ausgestellten Werk kann jeder Besucher seinen Beitrag leisten, wodurch Us Projekte einen sehr dynamischen Prozessrahmen erhalten. Us Werke leben nur dadurch, dass viele Menschen partizipieren – seine Werke verkörpern Partizipation.
Ein weiterer Gast an diesem Morgen war Bernd Overwien (Universität Kassel), Professor für die Didaktik der politischen Bildung, der die Partizipation von Kindern in der Schule in Bezug auf die Kinderrechte näher erläuterte.
Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen ist eine internationale Vereinbarung über die Rechte des Kindes, die von allen Staaten außer Somalia und den USA unterzeichnet wurden. Diese beinhalten neben Schutz- und Förderrechten vor allen Dingen auch Beteiligungsrechte, welche das Recht auf die eigene Meinung enthalten. Während man mittlerweile laut der Shell-Jugendstudie von einem Kulturwandel hin zur Partizipation in der Familie sprechen könne, sei die Respektierung und Umsetzung dieses Grundrechts im schulischen Alltag leider fraglich. Häufig existieren Ämter und politische Einrichtungen, wie z.B. die des Klassensprechers oder des Schülerparlaments, die Partizipation nur scheinbar ermöglichen. Auch die Kultusministerkonferenz hebt in ihrer Erklärung zur Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes von 2006 hervor, dass die Subjektstellung des Kindes in allen Schulstufen zu respektieren sei – was laut Overwien leider nicht der Realität entspricht. Darüber hinaus hält die Kultusministerkonferenz fest: „…, dass die altersgerechte Berücksichtigung des Kindes auf Schutz und Fürsorge sowie auf Partizipation essentiell für die Schulkultur ist.“ Betrachtet man jedoch die Studien zum Thema Mitspracherecht in der Schule, die auf Selbstauskünften der Kinder beruhen (z.B. World Vision Kinderstudie, Kinderpanel des Deutschen Jugendinstituts, LBS-Kinderbarometer), so wird sehr schnell deutlich, dass die von der UN festgelegten Konventionen im schulischen Alltag leider sehr geringe Umsetzung finden. Den möglichen Grund für die mangelnde Umsetzung sieht Overwien im erhöhten Arbeitsaufwand für Erwachsene. Es gebe vielseitige Möglichkeiten und große Spielräume diese auch in der Schule zu realisieren (z.B. Klassenrat, Mitbestimmung im Schulalltag über Regeln, Zeitgestaltung, Essen in der Mensa), jedoch beinhalten diese in der Vorbereitung und Ausarbeitung wesentlich mehr Aufwand als traditionelle Methoden und werden aus diesem Grund leider häufig gemieden.
Partizipation: ja, aber wie?
Um diesen Verhältnissen entgegenzuwirken wurde die Frage wie ein partizipatorischer Kunstunterricht in der Grundschule aussehen könnte am Nachmittag in Workshops zu verschiedenen Themenbereichen konkretisiert: „Interkulturalität“, „Information/Intermedia“ und „Generationen“. Ziel dieser Workshops war es als Initial für den längeren Prozess der Praxisphase zu wirken und erste konkrete Ideen zu Unterrichtsprojekten in der Grundschule festzuhalten, die in der folgenden Phase mit Leben gefüllt werden sollen. Im Themenbereich „Interkulturalität“ sollten Projektideen gesammelt werden, in denen die Idee, dass Kinder im Kontext der Kunstpädagogik Differenzen erfahren und gleichzeitig lernen können mit diesen umzugehen, umgesetzt werden kann. Partizipation soll in diesem Zusammenhang bedeuten, den Blick für unbekannte kulturelle Ausprägungen zu öffnen und sich auszutauschen, um Kultur als gemeinsamen Zwischenraum für das Zusammenleben zu finden. Im Workshop „Information/Intermedia“ sollten Projekte angestoßen werden, bei denen eine produktive Aneignung einer spezifischen Ästhetik der digitalen Informationssysteme im Zentrum steht, wozu auch ein emanzipiertes Verständnis der Produktionsbedingungen gehört. Das Ziel des dritten Workshops mit dem Schwerpunkt „Generation“ war es, Projekte zu initiieren, die den Austausch zwischen Jung und Alt ermöglichen. Im dritten Teil der Tagung an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg wird sich zeigen, inwieweit diese Initiatoren gewirkt und im Laufe der Zeit Früchte getragen haben. Besonders interessant wird sein, wie unterschiedlich das Thema Partizipation in seinen zahlreichen Fassetten umgesetzt wurde und welche Schwierigkeiten sich möglicherweise auch ergeben haben. Man darf gespannt sein…
Leonie Krücken
Leonie Krücken, Jg. 1987, Lehramtsstudentin Schwerpunkt Grundschule (8. Semester) mit den Fächern Kunst und Deutsch an der Universität zu Köln
Zum Part03 Partizipatorische Kunstpädagogik in der Grundschule
Hierzu möchte ich anmerken, dass der kunstpädagogische Rahmen in Schulen für Schüler die äußerst wichtige Gelegenheit bietet, die Welt real zu erkennen. Das „Fach“ Kunst sollte nicht länger nur als Fach (mit Kunstwerken und Kunstgeschichte gefüllte Schublade) betrachtet werden. Kunstlehrer sollten sich als hin- und überleitende Begleiter für junge Menschen betrachten. Dabei könnte ihnen die wahrlich herausragende Aufgabe obliegen, jungen Menschen bei der Entdeckung der Welt zur Seite zu stehen. Generell unterstelle ich Kunstpädagogen ein überdurchschnittlich hohes Bewusstsein hinsichtlich Komplexität – ist es etwa nicht so?
Der Krebsschaden in unserem Bildungssystem liegt doch zum Großteil in der strengen Gliederung nach Fächern begründet (völlig konträr zur systemisch funktionierenden Welt). Dadurch fehlen in den Schulen sehr oft die Faktoren, die Gelehrtes interessant machen und erklärend wirken. Gelehrtes wird deshalb von Schülern nicht wirklich gelernt/verarbeitet.
Das Fach Kunst könnte hier durch ausgesuchte, realitätsbezogene Themen Fächer verbindend, besser noch „Welt selbsterklärend“ wirken. Es könnten Themenprojekte zu allgemeinen und speziellen Systemen gestellt werden (zum Beispiel „Welche Folgen hat es wofür/für wen, wenn ein Haus leer steht und verfällt – was passiert alles?“). Dabei erhalten die Schüler die Einzel-/Gruppenaufgabe, selbst heraus zu finden, was alles passieren könnte und wer/was daran beteiligt ist. Bei der Aufgabenerfüllung sollte nie der Anspruch auf Vollständigkeit bestehen, denn so kann in einer Auswertungsrunde wiederum jeder entdecken, was die anderen herausgefunden haben. Immer steht zuerst das eigene Entdecken im Vordergrund und erst danach rangiert die „künstlerische“ Umsetzung (Wie zeige ich meine Entdeckung am besten). So kann sich jeder Schüler gewisse Zusammenhänge der Funktionen unserer Welt/seiner Umwelt selbst erschließen. Dabei wirken Kunstpädagogen erklärend im Thema und stützend in der technischen Ausführung. Am Ende des künstlerischen Unterrichtsprojektes sollte jeder Schüler sein entstandenes künstlerisches Projekt mündlich erläutern.
So wird der tröge, streng untergliederte Unterrichtsalltag durch ein wirklich interessantes Zeitfenster unterbrochen. Wahrscheinlich lernen die Schüler in „Kunst“ dann sogar mehr als in anderen Fächern oder diese erhalten dadurch ein höheres teilinhaltliches Interesse.
Ulrike Krause
Noch zu : 1 Ulrike Krause said at 08:15 on Juli 23rd, 2011:
Zu meinem eigenen Kommentar möchte ich noch anmerken, dass ich die Partizipation der Schüler im Kunstunterricht so sehe, dass sie sowohl die Wahl der Themenerfüllung als auch die Wahl der künstlerischen Umsetzung immer selbst treffen sollten. Anhand des von mir genannten Beispiels (leerstehendes Haus) könnten sich Schüler z. B. mit den sich verbreitenden Mäusen/Ratten/Spinnen und ihren Lebensräumen im und ums Haus oder auch mit dem Verfall von Fenstern, bröckelndem Putz, zerfallenden Dachbalken etc. auseinandersetzen, also jeder mit einem anderen, selbst gewählten „Unterthema“. Über welches Medium (Basteln, Bauen, Malen, Zeichnen; Kneten, Schreiben etc.) sie sich dabei mit dem Thema auseinandersetzen, sollte auch jedem einzelnen Schüler selbst überlassen sein. So bauen sich Hemmschwellen ab oder gar nicht erst auf. Auch wird der Vergleich zwischen den einzelnen Arbeiten nicht direkt möglich sein (…Der hat das besser gemalt als die…). Damit kann ein wirkliches Gefühl der Partizipation entstehen. Schüler spüren, dass die eigene Entscheidung die Akzeptanz von Kunstpädagogen und auch anderen Schülern erfährt. Die Partizipation wird noch gesteigert, wenn es Pädagogen verstehen, den Schüler-Lehrer-Dialog kreativ zu gestalten und den Schüler-Schüler-Dialog geschickt zu steuern.
Über die entstehenden/entstandenen Arbeiten kann erst dann, wenn von den Schülern im Unterricht nachgefragt wird, auf entsprechende Kunsttechniken und Kunstgeschichte mit Werksvermittlung eingegangen werden (Einzeln während der Arbeit und danach für alle). Nach eigenem Erleben sind Schüler interessierter an solchen Dingen.
Partizipation der Schüler im Kunstunterricht birgt eine doppelte Chance: die eigene Teilhabe am Projekt zu spüren und Zusammenhänge von Dingen (Systeme) zu erkennen.
Ulrike Krause
Da Kunst nicht definierbar ist, sollte der Kunstunterricht auch definitiv nicht dazu dienen, die entstandenen Arbeiten hinsichtlich ihrer künstlerischen Qualität zu benoten. Wie kann man bewerten, was nicht definiert ist?! Da eine Benotung im Fach Kunst jedoch kaum abgeschafft werden kann, könnte ich mir vorstellen andere Benotungskriterien zu wählen. Zum Beispiel kann bewertet werden, welcher Fleiß in einer Arbeit steckt, wie genau recherchiert wurde und mit welcher Ordnung, Sauberkeit und Genauigkeit die Umsetzung eines Themas erfolgte. Diese Schülerkompetenzen können bewertet werden, weil sie vergleichbar sind. Auch dadurch erfolgt eine Partizipation der Schüler. Sie können so nämlich selbst einschätzen und beeinflussen wie sie am jeweiligen Vorhaben teilhaben.
Zum Zitat aus dem Abschnitt „Drei Seiten der Partizipation“
…Diese kleinen positiven Erfahrungen sollten uns dazu hinbewegen, Veränderung zuzulassen und Risiken einzugehen, um Neues erreichen zu können…
Dazu bin ich der Meinung, dass sich das Bildungssystem nur aus sich selbst heraus ändern lässt. Kunstpädagogen sollten deshalb unbedingt mehr wagen als nur einen Lehrplan abzuarbeiten. Sie sollten kreativ als schülergerechte Mentoren wirken und eigene Ideen verwirklichen.
Der Kunstunterricht in der Grundschule ist mehr als die Einübung „kreativer“ Techniken oder eine Begegnung mit den „großen Künstlern“. Er ist der Ort einer experimentellen und kooperativen Auseinandersetzung mit Lebenswelt. Denn eine „Welt“ zu haben ist ein Prozess der stetigen Befragung und Dekonstruktion des Vorgefundenen bzw. Vermittelten. Kinder sind sich dessen seit frühester Kindheit bewusst; sie befragen neugierig und herausfordernd die Sinnstiftungen der „Erwachsenenwelt“, sind bestrebt alles zu verstehen. Doch nicht wie man es von ihnen vielfach erwartet, sondern imaginativ gewendet und sinnhaft erweitert. Solche Handlungsweisen gilt es zu erhalten bzw. auszubauen. Denn sie sind Garant für eine lebendige kulturelle (Weiter)Entwicklung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.
Um dies zu erreichen muss man Kinder ernst nehmen und etwas zutrauen. Dazu gehört auch das Bewusstsein für einen generationenvermittelnden Unterricht (vgl. Heinzel 2011); d.h. was Kinder sind und was sie anstreben ist nicht der Besitzstand der älteren Generation und muss stets neu verhandelt bzw. vermittelt werden. Für den Kunstunterricht bedeutet dies eine prinzipielle Offenheit für das kindliche Interesse und Raum für intrinsisch motivierte Experimente mit relevantem Material und bedeutsamen Themenfeldern. Dazu gehört sicher auch bildende Kunst, aber auch alltagskulturelle Formationen in unterschiedlichen Medien. Dies hat sehr viel mit Partizipation zu tun. Nur eine Kunstpädagogik auf „Augenhöhe“ mit dem pädagogischen Klientel kann dafür Sorge tragen, dass auch noch zukünftige Generationen etwas mit der Kunst anfangen können. Ob das dann noch „unsere“ Kunst ist, soll und darf in Frage gestellt werden.